Sinnlichkeitsoffensive
Gäbe es einen Preis für besonders raffinierte Programmideen – das Kuss-Quar tett wäre ein ganz heißer Anwärter. Nach der CD »Bridges« von 2007, die eine Brü cke von der Renaissance bis zur Gegen wart schlug, findet auch die aktuelle Auf nahme wieder einen ganz eigenen Weg durch die Seiten wege des Repertoires. Unter dem Motto »Thème russe« haben die Streicher ein rus sisches Programm aus geheckt, das bei unbekannten Liedva ria tionen des 19. Jahr hunderts beginnt und über Stra winsky und Schnittke auf Tschai kowskys erstes Quartett zusteuert.
So beschert uns die Aufnahme einige spannende Entdeckungen. Kleinode wie die melancholischen Sätze von Anton Lia dow und Victor Ewald oder Tschai kows kys »Album für die Jugend« mit seinen präg nanten Cha rakterbildern: Da zup fen die Streicher beim »Begräbnis der Puppe« einen kindlich ernsten Trauer marsch oder porträtieren eine Hexe mit gehässig ke-ckernden Sul-Ponticello-Klängen.
Die größte Überraschung ist jedoch das Ensemble selbst. Das Kuss-Quartett spielt und klingt insgesamt sehr viel süffiger, voller und runder als noch in der Schu bert-Aufnahme des vergangenen Jahres; Jana Kuss kostet die satten Sounds der G-Saite genüsslich aus und gönnt sich hier und da sogar ein geschmackvolles Porta mento. Dieser Wandel mag auch mit der neuen alten Geige zu tun haben, auf der sich die Primaria spürbar pudelwohl fühlt.
Trotz dieser Sinnlichkeitsoffensive haben die vier Streicher ihre analytische Trans parenz bewahrt: Im ersten Tschaikowsky-Quartett vereinen sie lyrischen Schmelz und expressive Wärme mit einem durchsichtigen Klang. Nur selten sind die Li nien der Mittelstimmen und ihre harmonischen Umfärbungen so fein ausgeleuchtet zu hören wie hier. Der Höhepunkt einer starken Aufnahme.
Marcus Stäbler
